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Warum es wichtig ist, woraus die Dinge sind

"Materialeffekte. Experimente, Fotografien, Entwürfe - oder warum es wichtig ist, woraus die Dinge sind."

Eine Ausstellung des Villa ARTE e.V. im Industriemuseum Chemnitz mit nominierten und ausgezeichneten Beiträgen des 6. Internationalen Marianne Brandt Wettbewerbs

  1. OKTOBER 2016 BIS 8. JANUAR 2017 im Industriemuseum Chemnitz

Materie und Material

Dass Materialien und Stoffe verschiedene Dinge sind, wusste auch Josef Albers, der in seinem Vorkursunterricht am Bauhaus Materie- und Materialübungen unterschied. Materie war für ihn die tendenziell unendliche Fülle an Stoffen und Substanzen, die erst in Prozessen des Nutzens, Verwertens und Gestaltens in Materialien verwandelt wird. Am Beginn seines Bauhausunterrichts – den er im Anschluss an das Grundkonzept von Johannes Itten (von 1923 bis 1928 gemeinsam mit Laszlo Moholy-Nagy) entwickelt hatte– stand das möglichst spielerisch-offene, aufmerksam-beobachtende Experimentieren mit verschiedenen Stoffen und deren Eigenschaften. „Durch ungestörtes, unbeeinflusstes, also vorurteilsloses Probieren“ sollte Materie als Material entdeckt werden und die Gestaltenden sich selbst als erfindende Produzenten erfahren. Aber den Zustand eines  wirklich absichtslosen Versuchens zu erreichen, war damals schwer und ist auch heute nicht leicht. Vielleicht ist es auch unmöglich.
Die Herausforderung Materie und Stoffe, also eine von menschlichen Verwertungsinteressen noch nicht berührte Welt als existent wahrzunehmen, oder zu  imaginieren, bleibt aber aktuell.  Ein einseitig auf möglichst effektive Materialverarbeitung und Herstellung neuer und neuester Produkte zielendes  Gestalterinteresse eröffnet kaum mehr sinnvolle Perspektiven in einer Welt, die offensichtlich ohnehin viel mehr Materie verbraucht und verwertet, als es jede ökologische Vernunft gebietet. Dagegen könnte ein Ansatz, wie ihn Josef Albers und Laszlo Moholy-Nagy im Bauhaus-Vorkurs favorisiert haben, d.h. Material explorativ, sinnlich und assoziativ immer wieder in Frage zu stellen,  die Suche nach Materialeffekten fördern, die nicht nur auf eine kurzfristig nützliche Materialeffizienz orientieren.

 

Kunst und Technik – ein Spielraum

Wenn der 6. Internationale Marianne Brandt Wettbewerb 2016 Gestalter und Künstler danach fragt, was ihnen „Materialeffekte“ heute bedeuten,  dann wird damit bewusst Bezug genommen auf die Auseinandersetzungen um eine materialgerechte Gestaltung und Materialerkundungen in der klassischen Moderne und am Bauhaus der 1920er Jahre, die eben nicht nur auf eine gesteigerte wirtschaftliche Produktivität ausgerichtet gewesen sind. Am Bauhaus, wo Marianne Brandt studierte, und sowohl inzwischen ikonisch gewordene Metallobjekte und Leuchten entworfen hat, als auch auch freie künstlerische Fotocollagen entwickelte, hat es allenfalls Vorahnungen und Annäherungen an ein strenges wissenschaftlich-technisch  geprägtes „Industrie-Design“ gegeben. Nicht alle Bauhäusler waren von den Möglichkeiten der Massenproduktion begeistert.  Das Ziel in den Werkstätten Häuser und Hausgeräte als Prototypen für die Industrie zu entwickeln, konnte auch immer nur in Ansätzen verwirklicht werden. Im Mittelpunkt der Debatten, die die Geschichte des Bauhauses in allen Jahren seiner Existenz von 1919-1933 prägten, stand meist das Ringen um künstlerische, sinnlich-konkrete und auch poetische  Zugänge, die sich gegenüber den sozialen und ökonomischen Problemlagen der Zeit nicht verschlossen. Den Anspruch auf das Entwerfen und Entwickeln ganzheitlicher Visionen wollte man dabei aber nie aufgeben. Kunst und Technik oder Technik und Kunst bildeten hier nicht, wie 1923 von Walter Gropius proklamiert eine versöhnte Einheit, sondern ein produktives Spannungsfeld und einen besonderen Spielraum für das Entdecken und Erfinden möglicher Materialeffekte.

 

Die Ausstellung des Internationalen Marianne Brandt Wettbewerbs:  ein zeitgenössisches Gestalter-Forum zu Fragen der klassischen Moderne

Auch daran - d.h. an die Vision einer sozial engagierten, gegenüber neuen technischen Entwicklungen offenen, angewandten Kunst -  knüpft der 2001 begründete Internationale Marianne Brandt Wettbewerb an. Alle drei Jahre werden weltweit junge Gestalter, Fotografen und Künstler eingeladen, Fragen und Ideen der klassischen Moderne aus heutiger Sicht neu zu bearbeiten. Anfangs war der Wettbewerb aus der Initiative entstanden, in Chemnitz als der Geburts- und Heimatstadt von Marianne Brandt, eine ihr gewidmete Ausstellung auszurichten. Inzwischen hat sich das Konzept bewährt, statt historischer Arbeiten von Marianne Brandt zeitgenössische Arbeiten zu zeigen, die sich nicht nur äußerlich auf ihre gestalterischen und künstlerischen Arbeitsfelder beziehen, sondern auch die damit einst verbundenen Hoffnungen, Wünsche und Visionen reflektieren. „Die Poesie des Funktionalen“,  Überschrift und Titel aller bisherigen Wettbewerbsausstellungen, erinnert an den klassisch modernistischen Anspruch,  dass jede noch so praktisch nützliche Gestaltung  mit der Herstellung eines ästhetisch-utopischen Mehrwerts, mit Hoffnungen bzw. einer größeren Idee von einem besseren und schöneren Lebens verbunden sein sollte. 

Für den 6. Internationalen  Marianne Brandt Wettbewerb wurden nun erstmals unter einem Gesamtthema, dem der „Material-Effekte“, Gestalter, Fotografen und Experimentatoren aller gestalterischer Disziplinen und künstlerischer Genres gefragt, wie sie sich einen zukunftsfähigen Umgang mit Ressourcen, Stoffen und Materialien vorstellen, wie sie nach Ideen suchen, wie sie die Dinge sehen und ihre Sicht in Fotografien umsetzen können sowie welche konkreten Gestaltungsvorschläge sich in Form von Produkten umsetzen lassen.  Welche Wege in einer Gesellschaft, die sich vielmehr von der Frage nach dem guten Leben und nicht nur nach dem nächsten Produkt leiten lässt, schlagen sie vor? Wie lassen sich gesellschaftliche Veränderungsprozesse denken, darstellen, vermitteln und gestalten, die kulturell und auch politisch wirksam sind und bis hin zur Produktgestaltung reichen können. Wie sehen Suchbewegungen in Richtung einer zukunftsfähigen Moderne aus? Unser auf vielerlei Weise verhängnisvoll zu sein drohendes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, hat ja nicht nur zu einem noch nie da gewesenen, hohen Wohlstandsniveau geführt, sondern auch zu wichtigen Standards von Zivilisierung geführt, wie Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, öffentliche Bildung, Gesundheits- und Sozialversorgung. Wie lassen sich diese Standards aufrechterhalten, wenn zugleich die Zerstörung von Naturräumen und der Verbrauch von Stoffen und Material drastisch begrenzt werden muss?

 

Gestaltung als Richtungswechsel

Die 60 aus 423 nationalen und internationalen Bewerbungen ausgewählten Arbeiten (es gab Einsendungen aus 27 Ländern), die in der Ausstellung „Material-Effekte“ als Versuchsanordnungen, fotografische Materialstudien und Produktgestaltungen präsentiert werden, sind keine Ideallösungen oder gar sofort in großem Maßstab umsetzbare Rezepte für eine ressourcenschonende Weltgestaltung. Im Zusammenklang kann die aus den Beiträgen entstandene Ausstellung aber eine komplexe, vielschichtige, ebenso funktional wie poetisch angelegte Suchbewegung aufzeigen, in der die Gestalter und Künstler – in vielerlei Hinsicht ähnlich wie die Gestalter und Künstler am Bauhaus der 1920er Jahre – weniger nach neuen Produkten, sondern vor allem nach Möglichkeiten der Prozessgestaltung, nach Wegen des Erfindens, nach Inspirationen sowie neuen Denk- und Handlungsweisen suchen. Das Spektrum reicht dabei von fotokünstlerischen Untersuchungen zur Vergänglichkeit oder Bewahrung von Individualität (Sophie Aigner) und leiblich-achtsamen Materialerprobungen (z.B. Jeanette Goßlau, Ilka Raupach) über Beispiele für innovatives Materialrecycling (z.B. Tim Mackerodt), Modelle eines ephemeren Precycling-Verfahren (Studio Umschichten), die mit nur geliehenen Materialien arbeiten, bis zu hochtechnologischen Experimenten in Kooperation mit Forschungsunternehmen der Industrie.  Es gibt das Wiederentdecken alter Handwerkstechniken (Anastasiya Koshcheeva) und eine ganze Reihe von Ansätzen, in denen damit experimentiert wird, Stofflichkeit nicht nur äußerlich zu verarbeiten, sondern strukturell neu zu programmieren – wobei auch die scheinbar selbstverständlich gewordene Unterscheidung von materieller und immaterieller Gestaltung in Frage gestellt wird (z.B. Anna Baranowski, Adrianus Kundert,  Demeter Fogarasi, Paula van Brummelen, Marvin Boiko).

Vielleicht könnte man die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten mit dem von Harald Welzer geprägten Begriff des „Transformationsdesigns“ als Ansätze für einen Richtungswechsel beschreiben. Dieser, so Welzer, „stellt das Design nicht nur vor ganz neue Aufgaben, es stellt das Design, wie wir es kennen – als Formensprache der Konsumwirtschaft, als Styling von Produkten – im Kern infrage. Es kommt nämlich nicht darauf an, grundsätzlich falschen Produkten ... ein gutes oder gar grünes Design zu verpassen. Sondern es geht um das Re-Design des Verhältnisses zwischen Rohstoff und Erzeugnis.“  Vielleicht „hätte das Design dann nicht mehr die Aufgabe, unablässig hinzukommende Dinge zu gestalten, sondern die, die man nicht braucht, aus der Welt zu schaffen.“ Vielleicht haben Gestalter aber auch vielmehr die Aufgabe, sich als Experten für die Verwandlung von Materie in Material und von Material in Schönheit neu zu erfinden. Inwieweit können sie ihr Formbewusstsein, ihre Formungsfreude und die Kompetenz für mit Material verbundenen und zu entwickelnden sinnlichen Qualitäten, Erlebnissen und leibliche Erfahrungen an andere Menschen weitergeben? Die Ausstellung „Materialeffekte“ ist auch dazu ein Experiment, bzw. eine Versuchsanordnung.   

 

 

Marianne Brandt

(geb. Liebe) (1.10.1893 in Chemnitz –18.06.1983 in Kirchberg) Künstlerin und Metallgestalterin am Bauhaus Dessau,
1926–1929

Bevor Marianne Brandt, die aus einer wohlhabenden Chemnitzer Anwaltsfamilie stammt, 1924 ihr Studium am Staatlichen Bauhaus in Weimar aufnahm, hatte sie am selben Ort schon von 1911 bis 1919 Malerei studiert: an der Hochschule für Bildende Kunst. Einer ihrer Kommilitonen war der norwegische Maler Erik Brandt , den sie 1919 heiratete.  Am Bauhaus wurde László Moholy-Nagy, der neben dem Vorkurs auch die Metallwerkstatt leitete ein wesentlicher Förderer und Vertrauter. Seine Unterstützung hatte Marianne Brandt sicher auch dabei geholfen, dass sie als einzige Frau nach dem Vorkurs ihre Ausbildung als Metallgestalterin fortsetzen konnte. Moholy-Nagy nannte Maianne Brandt auch seine "beste und genialste Schülerin“[i].  Bereits kurz nach ihrem Werkstatteintritt entwarf sie Aschenbecher, Kaffee- und Teeservices, kugelige und flache Teeextraktkännchen aus Silber und Ebenholz, die heute als Klassiker des Bauhaus-Designs gelten. Nachdem Brandt 1926 ihr Bauhausstudium mit einem Gesellenbrief als Silberschmiedin abgeschlossen hatte, wurde sie Moholy-Nagys Stellvertreterin und als dieser 1928 das Bauhaus verließ übernahm sie die Gesamtleitung der Metallwerkstatt. Für das neu errichtete Bauhausgebäude in Dessau entwarf sie den größten Teil der Beleuchtungssausstattung und verwendete dabei damals noch neuartige Materialien wie Opalglas, geschliffenes Aluminium und vernickeltes Messing.
Während ihrer Produktgestaltungen häufig als geometrische Konstruktionen angelegt sind, die auf die Grundformen Kreis, Kugel, Quadrat und Dreieck zurückgehen, entfaltete Marianne Brandt parallel dazu in ihren Fotografien und über 50 Fotocollagen künstlerisch freie, offen und dynamisch angelegte Kompositionen.

[i] László Moholy-Nagy: Brief vom 26. Juni 1929

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